Casanova erzählt

… Als ich, ganz von Clementinas Bild erfüllt, mich zu Bette legte, dachte ich über mich selber nach, und ich war ganz erstaunt, daß sie bei unseren Zusammenkünften unter vier Augen nicht den geringsten Nebengedanken in mir erregte, obgleich wir stundenlang beieinander waren. Indessen war es, was mich zurückhielt, keine Furcht; es war keine Schüchternheit, denn die ist mir fremd; es war keine falsche Bescheidenheit, und ebensowenig war es das sogenannte Pflichtgefühl. Auch war es keine Tugend, denn in solchem Maße schwärme ich für Tugend nicht. Was war es also? Ich quälte mich nicht lange mit Nachdenken darüber; ich wußte nur, daß dieses platonische Verhältnis nicht lange dauern konnte, und das tat mir leid; aber dieses Bedauern war der Todeskampf der Tugend.

Die schönen Bücher, die wir lasen, erregten unsere Teilnahme in so hohem Maße, daß in dieser Teilnahme die Verliebtheit unterging, die uns unser Beisammensein so köstlich finden ließ; aber, wie das Sprichwort sagt: der Teufel kam dabei nicht zu kurz. Dem Geiste gegenüber verliert das Herz seine Herrschaft: die Tugend triumphiert, aber der Kampf kann nur kurz sein. Unsere Siege verblendeten uns: wir glaubten unserer selber sicher zu sein; aber diese Sicherheit war ein Koloß mit tönernen Füßen und hatte jedenfalls nur darin ihren Grund, daß wir zwar ganz genau wußten, daß wir liebten, aber nicht wußten, ob wir geliebt würden. Im Augenblicke dieser Entdeckung mußte das Gebäude zusammenstürzen.

Diese vermessene Zuversicht veranlaßt mich, sie aufzusuchen, um ihr etwas in bezug auf unsere Fahrt nach Lodi zu sagen; die Wagen standen nämlich schon bereit. Sie schlief noch; als sie mich aber in ihrem Zimmer hörte, fuhr sie plötzlich empor. Ich dachte nicht einmal daran, mich bei ihr zu entschuldigen. Sie sagte mir, Tassos Aminta habe so sehr ihre Teilnahme erregt, daß sie vor dem Zubettegehen das ganze Gedicht gelesen habe.

»Der Pastor fido wird Ihnen noch viel mehr gefallen.«

»Ist er schöner?«

»Das kann man eigentlich nicht sagen.«

»Warum glauben Sie also, daß er mir mehr gefallen wird?«

»Weil er einen Zauber an sich hat, der zum Herzen geht. Er rührt, er verführt, und wir lieben die Verführung.«

»Er ist also ein Verführer?«

»Nein, aber er ist verführerisch wie Sie.«

»Dies ist ein wesentlicher Unterschied. Ich werde ihn heute Abend lesen. Nun will ich mich ankleiden.«

Sie zog sich an, ohne daran zu denken, daß ich ein Mann war, aber auch ohne den Anstand zu verletzen. Indessen glaubte ich zu bemerken, daß sie zurückhaltender gewesen wäre, wenn sie gewußt hätte, daß ich in sie verliebt war; denn während sie ihr Hemd überstreifte, ihr Mieder schnürte, ihre Schuhe anzog und ihre Strumpfbänder oberhalb der Knie befestigte, sah ich Schönheiten aufblitzen, die mich verführten; ich mußte hinausgehen, bevor sie noch fertig war, um ein wenig die Glut zu dämpfen, die sie in allen meinen Sinnen entfacht hatte.

Ich nahm in meinen Wagen die Gräfin Ambrogio und Clementina und setzte mich selber auf den Klappsitz, indem ich auf einem schönen Kissen den Säugling auf meinem Schoß hielt. Meine beiden schönen Begleiterinnen wollten sich zu Tode lachen; denn ich sah aus wie eine Amme, so gut spielte ich meine Rolle. Unterwegs bekam der kleine Säugling Bedürfnis nach der Mutterbrust. Die hübsche Mama gab sofort seiner Begier eine köstliche Halbkugel preis, die ich mit den Augen verschlang; doch war ihr meine Bewunderung durchaus nicht unangenehm. Mit lüsternen Blicken betrachtete ich das wundervolle Bild; ich konnte meine Freude nicht verhehlen. Als das Kind satt war, verließ es den schwellenden Busen der Mutter, und beim Anblick des reichlich herabträufelnden Saftes rief ich aus: »O, Signora, das ist ein Mord! Erlauben Sie meinen Lippen, diesen Nektar aufzufangen, der mich den Unsterblichen gleichmachen wird, und fürchten Sie meine Zähne nicht!«

Damals hatte ich noch welche!

Da die Gräfin lachte und sich meinen Wünschen nicht widersetzte, so machte ich mich ans Werk, indem ich meine beiden Begleiterinnen ansah, die vor Lachen nicht mehr konnten und Mitleid mit mir zu haben schienen. Dieses köstliche Lachen läßt sich nicht schildern. Nur Homer, der göttliche Homer, hat es wiederzugeben verstanden, indem er uns Andromache beschreibt, wie sie den kleinen Astyanax auf ihren Armen hält, als Hektor von ihr Abschied nimmt, um zum Heere zurückzukehren.

Mich trieb eine unersättliche Lust, sie noch mehr lachen zu machen. Darum fragte ich Clementina, ob sie den Mut haben würde, mir die gleiche Gunst zu bewilligen.

»Warum nicht, wenn ich Milch hätte?«

»Es genügt, daß Sie die Quelle haben; alles übrige übernehme ich selber.«

Bei diesen Worten errötete das reizende Mädchen so stark, daß ich es bereute, sie ausgesprochen zu haben; ich brachte jedoch das Gespräch auf etwas anderes, und bald war ihre Röte verschwunden. Nichts störte unsere Heiterkeit, und als wir vor dem Gasthof in Lodi ausstiegen, hatten wir gar nicht gemerkt, daß wir überhaupt gefahren waren.

Die Gräfin schickte sofort zu einer ihr befreundeten Dame und bat sie, mit uns zu speisen und ihre Schwester mitzubringen.

Unterdessen schickte ich Clairmont zu einem Papierhändler; er kaufte in meinem Auftrag eine prachtvolle verschließbare Schreibmappe von Maroquin, Papier, Siegellack, Federn, Tintenfaß, Falzbein, Petschaft, Federmesser und was sonst auf einen Schreibtisch gehört. Das Geschenk wollte ich meiner Clementina vor dem Essen überreichen. Ich hatte das Vergnügen, an ihrem Staunen zu bemerken, wie glücklich dieses Geschenk sie machte. Ich las Dankbarkeit in ihren schönen Augen. Eine aufrichtige Frau wird unfehlbar von einem Mann besiegt werden, der sie zur Dankbarkeit zu nötigen weiß. Dies ist stets das sicherste Mittel, zum Ziele zu gelangen, aber man muß es richtig anzuwenden wissen.

Die Freundin der Gräfin kam mit ihrer Schwester, einem jungen Mädchen, das es an Schönheit mit seinem ganzen Geschlecht aufnehmen konnte. Ich war von ihr geblendet; aber die Göttin der Liebe selber hätte mich in diesem Augenblick nicht meiner Clementina untreu machen können. Nachdem die Freundinnen sich in der Freude ihres Wiedersehens umarmt hatten, wurde ich vorgestellt, wobei man mich mit solchen Komplimenten bis in die Wolken erhob, daß ich schließlich ihren Überschwenglichkeiten mit einigen spaßhaften Bemerkungen ein Ende machen mußte.

Wir erhielten ein üppiges und feines Mahl. Beim Nachtisch vermehrte sich die Gesellschaft um zwei freiwillige Gäste, den Mann der Dame und den Liebhaber der Schwester; sie waren willkommen, denn sie trugen zur Erhöhung der Heiterkeit bei. Um die Fröhlichkeit zu krönen, in die uns der Champagner versetzte, gab ich den Wünschen der Gesellschaft nach und legte eine Pharaobank auf. Als wir nach drei Stunden aufhörten, sah ich zu meinem großen Vergnügen, daß meine Börse um etwa vierzig Zechinen erleichtert worden war. Diesen kleinen Verlusten zur rechten Zeit verdankte ich zum großen Teil meinen Ruf, der nobelste Spieler Europas zu sein.

Der Liebhaber des schönen Fräuleins hieß Vigi; ich fragte ihn daher, ob er vom Verfasser des dreizehnten Gesanges der Äneide abstammte. Er bejahte meine Frage, und sagte, er habe seinem Ahnherrn zu Ehren diesen Gesang in italienische Stanzen übertragen. Da ich den Wunsch äußerte, seine Übersetzung zu sehen, versprach er mir, sie am übernächsten Tage nach Sant’ Angelo mitzubringen. Ich machte ihm mein Kompliment zu seinem alten Adel, denn Maffeo Vigi blühte zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts.

Mit Einbruch der Nacht fuhren wir wieder ab und gelangten in weniger als zwei Stunden nach Sant’ Angelo. Der Mond, der alle meine Bewegungen beleuchtete, zwang mich der Verführung zu widerstehen, die eins von Clementinas Beinen mir einflößte; sie hatte nämlich, um ihren kleinen Neffen besser auf ihrem Schoß halten zu können, den einen Fuß auf den Klappsitz gesetzt. Die hübsche Mama sprach unermüdlich von dem Vergnügen, das ich ihnen verschafft hätte, und alle wetteiferten in Lobeserhebungen wegen meiner Bewirtung.

Da wir keine Lust hatten, zu Abend zu speisen, zogen wir uns auf unsere Zimmer zurück; ich begleitete Clementina, die mir anvertraute, sie schäme sich, daß sie keine Ahnung von der Äneide habe. Vigi werde mit seiner Übersetzung des dreizehnten Gesanges kommen, und nun wisse sie kein Wort darüber zu sagen!

Ich tröstete sie, indem ich zu ihr sagte: »Wir werden heute Nacht Annibale Caros schöne Übersetzung des Gedichts lesen, die Sie besitzen. Sie haben ebenfalls die Übersetzung von Anguilara, ferner Ovids Metamorphosen und Marchettis Lucrezübertragung.«

»Aber ich wollte ja den Pastor fido lesen.«

»Wir wollen zunächst emmal das Dringlichste erledigen; den Pastor fido lesen wir ein anderes Mal.«

»Ich werde alles machen, was Sie mir raten, mein lieber Iolas.«

»Dadurch machen Sie mich glücklich, liebe Hebe.«

Wir verbrachten also die ganze Nacht damit, dieses herrliche Gedicht in italienischen Blankversen zu lesen; aber dieses Vorlesen wurde oft durch das geistreiche Lachen unterbrochen, das meine reizende Schülerin nicht zurückhalten konnte, wenn gewisse Stellen ihre Sinne zu sehr kitzelten. Sie lachte laut auf, als sie hörte, wie der Zufall Äneas veranlaßte, der Dido in einer sehr unbequemen Lage ein tüchtiges Zeichen seiner Zärtlichkeit zu geben. Und sie lachte noch mehr, als die Liebende sich über die Untreue des Priamus-Sohnes mit den Worten beklagte: »Ich könnte dir noch verzeihen, wenn du vor deiner Abreise mir einen kleinen Äneas zurückgelassen hättest, den ich auf meinem Hofe herumspielen sähe.« Clementina hatte recht, daß sie lachte, denn der Vorwurf ist sehr komisch. Aber woher kommt es, daß man keine Lachlust empfindet, wenn man das Lateinische liest?

Si quis mihi parvulus aula luderet Aeneas .

Nur die ernste Schönheit der Sprache kann dieser komischen Klage einen Firnis von Würde geben.

Wir beendeten die interessante Vorlesung erst mit Tagesanbruch.

»Welch’ eine Nacht!« rief Clementina mit einem Seufzer; »für mich war sie eine Herzensfreude, aber für Sie?«

»Mir war sie eine außerordentliche Freude, da ich die Ihrige sah.«

»Und wenn Sie diese nun nicht gesehen hätten?«

»Auch dann wäre es für mich eine große Freude gewesen, aber doch eine viel geringere. Ich liebe Ihren Geist außerordentlich, teure Clementina; aber sagen Sie mir, bitte, ob Sie es für möglich halten, den Geist eines Menschen zu lieben, ohne zugleich auch die körperliche Hülle zu lieben?«

»Nein, denn ohne die Hülle würde der Geist sich ja verflüchtigen.«

»Hieraus ist also die Folgerung zu ziehen, daß ich Sie sehr lieben muß, und daß ich unmöglich sechs oder sieben Stunden mit Ihnen allein verbringen kann, ohne vor Lust zu vergehen, Sie mit meinen Küssen zu bedecken.«

»Das ist wahr, und ich glaube, wir widerstehen dieser Lust nur deshalb, weil wir Pflichten haben und weil wir uns gedemütigt fühlen würden, wenn wir diese verletzten.«

»Auch das ist wahr; aber wenn Sie ebenso empfinden wie ich, so muß Ihnen diese Zurückhaltung sehr schmerzlich sein.«

»Ebenso schmerzlich vielleicht wie Ihnen; aber ich glaube, der Widerstand gegen gewisse Wünsche fällt uns nur im Anfang schwer. Nach und nach gewöhnt man sich daran, einander zu lieben, ohne dabei sich einer Gefahr auszusetzen und ohne sich einen Zwang antun zu müssen. Unsere Hüllen, die anfangs so anziehend sind, werden uns schließlich gleichgültig, und wenn wir erst einmal so weit sind, werden wir ganze Tage und Nächte mit einander verbringen können, ohne daß eine fremde Begier uns stört.«

»Für mich selber zweifle ich daran; aber wir werden sehen. Leben Sie wohl, allzu schöne Hebe.«

»Leben Sie wohl, guter Iolas, schlafen Sie gut!«

»Mit Ihrem Bilde im Herzen.«

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